November 2022
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Rezessionen und starke Kursrückgänge kommen in der Regel unerwartet. Doch 2022 wird wohl in die Finanzgeschichte als das Jahr der «am stärksten erwarteten» Rezession aller Zeiten eingehen. Auch macht dies das aktuelle Umfeld so unverwechselbar und ungewöhnlich – plötzlich sieht jeder eine Rezession am Horizont. Eine Rezession 2023 ist zwar möglich, aber die Datenlage ist nicht so eindeutig, wie es das vorherrschende Narrativ vermuten lässt. Auf der Suche nach kurzfristigen Gewinnen verlieren die Anleger zunehmend die Fundamentaldaten der Unternehmen aus den Augen. Dieses Umfeld birgt «Bottom-Up» Chancen für langfristige Investoren, welche die kurzfristige Stimmung und den makroökonomischen Konsens ignorieren können.
Wenn die Mehrheit der Anleger absolut davon überzeugt ist, dass ein bestimmtes makroökonomisches Szenario eintreten wird, dann lohnt es sich in aller Regel, die andere Seite des vorherrschenden Narrativs einzunehmen, weil sich dann das Chancen-/Risikoverhältnis zu den eigenen Gunsten verschiebt. Wie im Marktkommentar vom September dargelegt, teilen wir aktuell weder die Inflationshysterie, noch das Konsens-Szenario einer deutlichen Rezession.
Der US-Konsument bringt Rückenwind für die Gesamtwirtschaft
Nach fünf negativen Quartalen in Folge ist das real verfügbare, persönliche Einkommen des US-Konsumenten im dritten Quartal geringfügig gestiegen (siehe Chart unten). Da die Inflation zurückgeht, werden die US-Konsumenten auch im vierten Quartal Reallohnzuwächse erfahren, zumal der Arbeitsmarkt nach wie vor sehr gesund ist. Die Anträge auf Arbeitslosenunterstützung sind so niedrig und die Beschäftigungsquoten im erwerbsfähigen Alter so hoch wie nie zuvor. Folglich werden steigende Realeinkommen dazu beitragen, einen Teil der wachstumsdämpfenden Effekte durch höhere Zinsen im Jahr 2023 auszugleichen.
Die US-Notenbank hat nur ein begrenztes Instrumentarium, um die Wirtschaft in einer dienstleistungsbasierten Ökonomie abzukühlen. Sie kann zwar die Zinssätze anheben, aber das hat nachteilige Folgen für Häuslebauer oder Autohersteller. Jedoch die Entscheidung der Verbraucher, heute in ein Restaurant zu gehen oder morgen einen Freizeitpark zu besuchen, wird durch die Leitzinsen nicht merklich beeinflusst. Somit dürften die US-Konsumenten die gesunkenen Benzin- und Energiepreise direkt für den Konsum einsetzen. Sie geben das gesparte Geld, das sie noch vor sechs Monaten für Benzin ausgegeben hatten, für andere Konsumzwecke aus. Sie kaufen Flugtickets, Hotelübernachtungen und andere Freizeitaktivitäten. Das gibt der Gesamtwirtschaft einen starken Rückenwind, denn der Konsum macht knapp 70% der US-Wirtschaftsleistung aus. Diese Entwicklungen könnten dazu beitragen, eine Rezession noch eine Weile hinauszuzögern.
Tatsächlich deuten «Echtzeitindikatoren» wie das «GDPNow» der Atlanta Fed darauf hin, dass sich das reale Wachstum im vierten Quartal auf kapp 3% belaufen wird. Zudem haben Frühindikatoren wie der von der Citigroup erhobene «Economic Surprise Index» nach oben gedreht. Sollte das Wachstum also tatsächlich positiv überraschen, dürften auch die Unternehmensgewinne nicht so stark zurückgehen, wie das aktuell von vielen Marktbeobachtern befürchtet wird. Wie aus der Abbildung unten ersichtlich ist, waren positive Überraschungen auf der Wachstumsseite in der Vergangenheit in aller Regel mit Aufwärtskorrekturen bei den Gewinnschätzungen verbunden, sowohl in den USA (erster Abscnitt), als auch auf globaler Ebene (zweiter Abschnitt).
Die aktuelle Situation kann im Prinzip als verzögerte Auswirkung der Fiskalpolitik und des pandemiebedingten Rückgangs des Verbrauchs verstanden werden. Die anfänglichen fiskalischen Multiplikatoren waren relativ gering, da die Menschen Geld sparten. Aber die Fiskalpolitik wirkt mit Zeitverzögerung und stützt erst jetzt den Verbrauch (und bis vor kurzem die Inflation). Die steigenden Zinsen werden sich allerdings ebenfalls mit Zeitverzögerung auf den Konsum auswirken, zumal das Fed mit den deutlichen Zinsschritten erst am Anfang des Jahres begonnen hat.
Die USA verzeichneten in diesem Jahr zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Wirtschaftswachstum, wohingegen die wirtschaftliche Expansion in der der Eurozone trotz widriger Umstände wie dem Krieg und den sehr hohen Strompreisen anhielt. Seit 2021 hat sich das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone um 6% erholt und liegt damit gleichauf mit dem der USA. Insgesamt stehen diese vergleichsweise guten Entwicklungen im Einklang mit den «Makro-Stories» der aufgestauten Nachfrage nach der Pandemie und den Ersparnisüberschüssen der Haushalte.
«Ersparnisüberschüsse» der Haushalte im H2 2023 aufgebraucht
Mit Blick auf 2023 dürften Inflationsrückgänge und Reallohnzuwächse nötig sein, um den Konsum auf hohem Niveau zu halten. Die US-Verbraucher fangen bereits an, ihre angesammelten Pandemie-Ersparnisse anzuzapfen. Die persönliche Sparquote der Haushalte liegt normalerweise bei 7.5 %. Während der Pandemie lag sie 15 Monate in Folge über 10 %, wobei im gesamten Zeitraum 2.2 Billionen Dollar an überschüssigen Ersparnissen angesammelt wurden, nicht zuletzt auch dank der Tansferzahlungen der Regierungen (siehe Monatsreport vom Juni 2022).
In Europa zeigt sich eine ähnliche Situation: Gemäss einer Analyse der Europäischen Zentralbank belaufen sich die angesammelten «Ersparnisüberschüsse» in der Eurozone seit dem 4. Quartal 2019 auf über 850 Milliarden Euro.
Seit 13 aufeinanderfolgenden Monaten liegt die Sparquote der US-Haushalte unter dem Durchschnitt, was zu aufgebrauchten Ersparnissen von rund 800 Milliarden Dollar führte (siehe Chart unten). Gemäss J.P. Morgan werden monatlich US-Ersparnissüberschüsse von rund 100 Mrd. USD «verbrannt». Mit anderen Worten: Sollten sich die Inputpreise nicht deutlich zurückbilden und die Verbraucher entlasten, dürften die Ersparnisüberschüsse aus der Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2023 aufgebraucht sein.
Fallende Aktienkurse aufgrund steigender Diskontierungssätze
Bisher sind die Aktienkurse primär als Reaktion auf die höheren Diskontierungssätze (steigende Anleihezinsen) gefallen, aber die Märkte haben bereits auch eine Rezession eingepreist. Wie aus der unten stehendende Grafik hervorgeht, waren Rückgänge der Bewertungsmultiples um 20 bis 25% in den letzten 40 Jahren immer mit einer Rezession respektive einer bevorstehenden Rezession verbunden. 2022 hat sich das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des amerikanischen Leitindex S&P 500 für die kommenden zwölf Monate ebenfalls deutlich zurückgebildet. Der historische Abverkauf an den Aktienmärkten ohne einen entsprechenden Rückgang der Gewinne ist, abgesehen von der Baisse 1974, ohne Vergleich.
Vor diesem Hintergrund dürften für die künftige Kursentwicklung a) die weitere Entwicklung der Diskontierungssätze, und b) die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen entscheidend sein. Insgesamt halten sich die Gewinne gut, aber nicht gleichmässig über alle Sektoren hinweg. In der zyklischen Konsumgüterbranche und im Finanzsektor haben die Gewinne nach unten gedreht und schliessen sich damit der Entwicklung in der Technologie- und Kommunikationsbranche an (siehe Monatsbericht vom Oktober).
Wie eingangs erwähnt, sorgen die Ersparnisüberschüsse und der damit verbundene post-pandemische Konsumboom für anhaltendes Wachstum. Steigende Zinssätze und die höhere Inflation beginnen aber den Verbraucher langsam zu belasten.
Für alle, die optimistisch bleiben wollen, sollten die rückläufigen Ergebnisse des zyklischen Konsumsgütersektors besorgniserregend sein. Denn in der Vergangenheit war die Entwicklung der Gewinne dieser Branche ein guter Indikator für die Gewinnentwicklung des S&P 500 Index. Grundsätzlich ist die Analystengemeinde chronisch zu optimistisch sowie an den Wendepunkten tendeziell zu spät. Das für 2023 erwartete Gewinnwachstum von 28% für den zyklischen Konsumgütersektor scheint vor diesem Hintergrund zu positiv zu sein.
«Bottom-Up» Opportunitäten für langfrsitige Investoren
Umgekehrt boten Marktverwerfungen in der Vergangenheit hervorragende Gelegenheiten, um in attraktiv bewertete, zyklischere Firmen zu investieren, die in einem darauffolgenden Aufschwung in aller Regel überdurchschnittlich abschnitten. Selbst wenn es zu einer leichten Rezession kommen sollte, ist diese inzwischen grossenteils in den zyklischen Aktien beispielsweise des Energie-, Grundstoff -und Industriesektors eingepreist, wo viele Titel bereits um 25 bis 50 % gefallen sind.
Wir sind keine Makro-, sondern vielmehr Mikroinvestoren, welche sich auf die Auswahl einzelner, hervorragender Unternehmen konzentrieren. Die meisten der selektionierten Unternehmen reagieren weniger empfindlich auf das makroökonomische Umfeld als die unterliegenden Börsenkurse, und selbst bei jenen, die kurzfristig betroffen sind, sind die Auswirkungen auf drei bis fünf Jahre hinaus begrenzt. Wenn Anleger auf der Suche nach kurzfristigen Gewinnen die Fundamentaldaten der Unternehmen aus den Augen verlieren, dann eröffnet dies Chancen für langfristige Investoren, welche die kurzfristige Stimmung und den makroökonomischen Konsens ignorieren können. Welche Segmente 2023 und für die kommenden Jahre besonders aussichtsreich sind, wird im kommenden Monatsbericht erläutert.
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